Die Oma im Rhododendronbusch
Von Axel Baumgart (mit
einer Zeichnungen von Ute Petkelis und Barbara Baumgart)
Fips und Fienchen wollten
heute wieder einmal einen schönen Ausflug mit einem Picknick machen. Alles war
vorbereitet: Fips hatte seinen kleinen Rucksack mit allen Sachen gepackt, die
sie für das Picknick brauchen würden. Eine weiche und große Decke, etwas
Leckeres zu essen und natürlich auch Getränke. Fienchen war schon da und
wartete im Wohnzimmer ungeduldig darauf, dass er endlich fertig wurde und es
losgehen konnte. An diesem Tag brauchte er aber wieder besonders lange. Immer
wieder überlegte er von Neuem, ob er auch an alles gedachte hatte und wurde das
Gefühl nicht los, dass etwas Wichtiges fehlte. Er kam jedoch nicht drauf, was
es war. Als er schließlich mit dem gepackten Rucksack zu Fienchen ging, sagte
diese:
„Willst du so losgehen?“
„Klar,“ sagte Fips
verunsichert, „es ist alles eingepackt!“
„Ja, alles bis auf deine
Füße.“
Fips schaute an sich
herunter, und tatsächlich, er hatte vergessen, seine Schuhe anzuziehen. Er
ärgerte sich ein wenig, denn eigentlich vergaß er immer irgendetwas, so sehr er
sich auch anstrengte, an alles zu denken. Schnell griff er zu seinen
Lieblingsschuhen und schlüpfte hinein. Nachdem sie seine Wohnung verlassen
hatten, brauchten sie gar nicht weit zu laufen. Schon
nach einer viertel Stunde hatten sie einen wunderschönen Rhododendronbusch
erreicht. Er war ideal, um dort, mitten in dem Busch, ein Picknick zu machen.
Es war ein schöner Frühlingstag, die Sonne schien und ein leichter Wind ging.
In dem Busch war es windstill und schattig. Durch einen kleinen Tunnel aus
Ästen und Zweigen kamen sie in die Mitte des Busches, wo nahe bei dem dicksten
Stamm ein großer, freier Platz war, auf dem es sich die beiden Mäuse gemütlich
machten. Von außen konnte man diesen Platz nicht sehen, aber von dort konnte
man prima rausschauen und alles beobachten was sich auf dem Bürgersteig und auf
der Straße abspielte. Fienchen hatte diesen Busch vor einiger Zeit durch einen
Zufall entdeckt. Die zwei Freunde kannten viele Plätze, wo man ein Picknick
machen konnte, aber dieser war einer der Besten, besonders wenn die Sonne
schien.
Sie hatten sich gerade
richtig eingerichtet, die Decke ausgebreitet und alle Leckereien ausgepackt,
als Fips eine Frau auf dem Fußweg sah. Sie war alt und hatte bestimmt schon
Kinder und Enkelkinder. Trotzdem benahm sie sich selbst wie ein Kind. Sie hielt
ein kleines Papiertaschentuch in der Hand und schwenkte es lustig hin und her.
Dabei beobachtete sie, wie es im Wind flatterte.
„Komisch,“ sagte Fips, „die
ist ja komisch.“
Kaum hatte er es
ausgesprochen, drehte Fienchen sich zu der Oma um, um zu sehen, was er gemeint
hatte . Da kam ein heftiger Windstoß und wehte der Oma das Papiertaschentuch
aus der Hand. Der Wind erfasste es und trug es in einem weiten Bogen genau auf
Fips und Fienchen, beziehungsweise den Rhododendronstrauch, zu. Gespannt
beobachteten die beiden die Flugbahn und mussten leise kichern, als das Tuch
oben auf ihrem Busch landete.
Die Großmutter hatte mit
einem verdutztem Gesicht zugeschaut. Nun ging sie geradewegs auf den Busch der
beiden Mäusefreunde zu. Anfangs hatten sie befürchtet, die alte Frau hätte ihr
Kichern gehört. Doch bald schon merkten sie, dass sie nur das Tuch aus dem
Busch entfernen wollte. Wenn Fips und Fienchen ein Picknick machten, war es ja
nie langweilig, aber heute schien es ein ganz besonders unterhaltsames Picknick
zu werden.
Das Tuch war am höchsten
Zweig, oben, mitten auf dem Busch hängen geblieben. Die Oma war klein. Sie
streckte den rechten Arm aus, um das Tuch zu ergreifen. Es reichte nicht. Jetzt
versuchte sie es mit links. Das ging auch nicht. Sie versuchte es auf
Zehenspitzen. Auch so blieb das Tuch für sie unerreichbar. Bein nächsten
Versuch stellte sie sich auf ihre alten, schwachen Beine, ohne den Gehstock als
Hilfe zu nutzen. Den Stock brauchte sie, um mit ihm das Tuch zu erreichen.
Immer weiter beugte sie sich vor. Drohend schwebte nun ihr Oberkörper über dem
Picknickplatz der beiden Mäuse. Sie drehte sich etwas zur Seite, um den Stock
noch höher strecken zu können. Diese Drehung war wohl zuviel des Guten, denn
die alte Frau verlor das Gleichgewicht. Ganz langsam, mit den Händen Halt
suchen, kippte sie in den Busch hinein. Um ihr Gesicht zu schützen, drehte sie
sich noch mehr zu Seite und sank mit dem Po tief in den Busch hinein. Fips und
Fienchen hätten das wahrscheinlich ganz ungemein komisch gefunden, wenn, ja
wenn ihr Picknick nicht genau unter diesem Po gewesen wäre.
Sie hatten schon die ganze
Zeit ihre Scherze gemacht, dass das Tuch wohl auf ewig wie eine Fahne auf ihrem
Busch wehen würde, als es passierte. Der Po sank langsam aber kraftvoll in den
Busch und drückte alle Zweige nieder, die sich wie ein Dach über ihrer Decke
gewölbt hatten. Sie waren vor Schreck so starr, dass sie gar nicht daran dachten,
wegzulaufen. Nun saßen sie, oder besser Fips saß und Fienchen lag, eingeklemmt
zwischen den niedergedrückten Zweigen und dem Po der Oma. Puh, das war knapp
gewesen, aber die Gefahr war noch nicht vorbei. Ohne Vorwarnung fing der Po an,
nach links und rechts zu rutschen. Dabei wurden die Zweige noch weiter
heruntergedrückt, sodass Fips nun auch lag. Er hatte einen Fuß von Fienchen im
Gesicht und eine Hand unter dem Po der Oma.
Die zwei Freunde konnten
nicht sehen, was die alte Frau machte, aber aus den Bewegungen schlossen sie,
dass sie versuchte, sich an Zweigen und Ästen aus dem Busch zu ziehen. Entweder
waren die Zweige zu dünn, oder sie hatte nicht genug Kraft, auf jeden Fall sank
sie immer wieder in den Busch zurück. Bei einem dieser Versuche hatte Fips
probiert, ihr zu helfen und von unten gedrückt. Dabei hatte er sich aber nur
selber in Gefahr gebracht. Als die Oma wieder zurück in den Busch fiel, war er
genau unter ihrem Po gewesen und konnte erst in allerletzter Sekunde zur Seite
springen. Die Lage schien ausweglos zu sein.
Eine schier endlos lange
Zeit verging, in der die zwei Mäuse unter den Zweigen eingeklemmt waren. Die
kleine Oma saß oben auf dem Busch und jammerte immer wieder:
„Oh weh, was hab ich nur
gemacht! Oh weh, oh weh!“
Die beiden Freunde konnte
es schon nicht mehr hören. Immer wieder das Gleiche. Sie befürchteten schon,
dass sie den Rest vom Tag und vielleicht auch noch die ganze Nacht eingeklemmt
im Busch liegen müssten, als ganz unerwartet Hilfe kam. Ein junger Mann
spazierte die Straße entlang und sah die alte Frau im Busch liegen. Sofort ging
er auf sie zu und hörte schon aus einiger Entfernung:
„Oh weh, was hab ich nur
gemacht! Oh weh, oh weh!“
Am Busch angekommen fragte
er sofort:
„Gute Frau, was haben Sie
denn gemacht? Kann ich irgendwie helfen?“
Jetzt endlich sah die Frau
ihn auch, streckte ihm eine Hand entgegen und sagte leise nur ein einziges
Wort:
„Hilfe!“
Sofort ergriff er die Hand
und zog vorsichtig. Ein kleines Stück bewegte sich die Oma. Gerade genug, dass
Fips und Fienchen sich aus ihrer Lage befreien und zur Seite rutschen konnten.
Endlich lagen sie nicht mehr unter dem Po und waren nicht mehr von Zweigen
eingeklemmt. Trotzdem kamen sie noch nicht ganz aus dem Busch heraus, weil
durch das Gewicht die Zweige niedergedrückt wurden, und der Tunnel nach draußen
zu niedrig geworden war, um hindurch zu schlüpfen. Die Oma ihrerseits kam auch
nicht aus dem Busch heraus. Durch die vielen Versuche sich zu befreien und das
hin und her Rutschen hatten sich einige Zweige in ihrem Mantel verhakt und
zogen sie jedes Mal in den Busch zurück, wenn der junge Mann sie fast draußen
hatte. Es war zum Verzweifeln. Was auch immer die Oma und der junge Mann
versuchten, es endete immer damit, dass die Oma mit einem lauten Stöhnen in den
Busch zurück plumpste.
Fienchen war es, die
schließlich sagte:
„Fips, wenn wir heute noch
aus dem Busch heraus wollen, müssen wir wohl etwas unternehmen und helfen.“
„Aber was sollen wir denn
machen? Die Frau ist doch viel zu schwer für uns. Und wenn wir von unten
drücken, dann fällt sie am Ende noch ganz auf uns drauf!“
„Beim nächsten Versuch
schauen wir genau hin, was wir tun können, ohne uns selbst zu gefährden.
Einverstanden?“
„In
Ordnung!“
Lange mussten sie nicht
warten, da zog der Mann erneut an den Armen der Oma. Wieder ohne den
gewünschten Erfolg. Fienchen hatte allerdings genau beobachtet, was passiert
war. Sie hatte die Zweige entdeckt, die sich im Mantelgürtel und in den
Manteltaschen der Oma verfangen hatten. Diese Zweige waren es, die die Arme bei
jedem Versuch in den Busch zurückzogen. Sie sagte Fips, was sie gesehen hatte,
und sofort fingen sie an, den Mantel aus den Zweigen zu befreien. Sie brauchten
nur noch zwei, drei Zweige zur Seite zu biegen, als der junge Mann einen neuen
Versuch unternahm und den Armen der Frau zog. Mit dem üblichen „Oh weh!“
bewegte sich die Oma langsam nach oben. Sie stand schon fast, als die Bewegung
stockte. Schnell mussten Fips und Fienchen gemeinsam den letzten Zweig, der den
Mantel festhielt, mit ihren scharfen Mausezähnen durch beißen. Mit einem
letzten Zug konnte der Mann die alte Frau aus dem Busch befreien. Sofort gab er
ihr ihre Gehhilfe und führte sie zu einem Hauseingang, wo sie sich auf eine
Treppenstufe setzen konnte.
Eine ganze Zeit lang war
nichts zu hören außer dem tiefen Schnaufen des Mannes und dem „Oh weh, oh weh!“
der Oma. Als der Mann sich erholt und die alte Frau ihren Schrecken überwunden
hatte, bedankte sie sich bestimmt zwanzigmal bei ihm, bis es ihm fast peinlich
wurde. Er verabschiedete sich, aber nicht ohne von der Oma das Versprechen zu
bekommen, keine Taschentücher mehr auf irgendwelche Büsche fliegen zu lassen.
Nach weiteren fünf Minuten stand auch sie auf und ging den Weg zurück, den sie
gekommen war.
Fips und Fienchen waren
sich einig: Das war eines der spannendsten Abenteuer, die sie je erlebt hatten.
AB, Frankfurt a.M.
09.04.2005