Die Reise nach New York
Von Axel Baumgart
Es klopfte laut und
vernehmlich an der Tür, die zu Fips’ Wohnung führte. Fips war sehr überrascht, denn
er erwatete keinen Besuch. Aus diesem Grund war seine Wohnung auch nicht
aufgeräumt. Als es noch einmal klopfte, siegte seine Neugier, er ging zur Tür
und öffnete sie. Fienchen stand dort und ohne etwas zu sagen oder darauf zu
warten, dass Fips „Herein“ sagen konnte, stürmte sie in die Wohnung und ließ
sich in einen Sessel fallen. Sofort sprang sie wieder auf und lief im
Wohnzimmer auf und ab. So hatte Fips sie noch nie erlebt.
„Auch wenn du eine Maus
bist, kannst du trotzdem endlich die Türe und deinen Mund zu machen und rein
kommen.“
Sprachlos gehorchte Fips.
„Ich muss dir etwas
erzählen. Ich hatte gerade eine super tolle Idee. Was hältst du davon, wenn wir
beide einmal Urlaub machen?
„U-Urlaub?“ stammelte Fips.
„Ja, Urlaub. Das kennst du
doch. Mit Kofferpacken, Verreisen, Sehenswürdigkeiten besichten und so weiter.“
„Wegfahren? Weg aus dieser
Stadt?“
„Ja, sogar in ein anderes
Land!“
„Anderes Land? Aber wohin
denn?“
„Ja, ja. In ein anderes
Land. Übers Meer, nach Amerika! Nach NEW YORK!“
„Übers Meer?“
„Ja, jajaja,
ist dass keine tolle Idee?“
So aufgeregt hatte Fips sie
noch nie erlebt. Er war sich zudem nicht sicher, ob Amerika wirklich eine tolle
Idee war. Da man nicht über das Wasser laufen konnte, flogen die meisten Leute
nach Amerika. Das wusste Fips. Er selbst war einmal vom Tisch geflogen und auf
dem harten Boden gelandet. Die Landung hatte sehr weh getan. Er konnte sich gar
nicht vorstellen, wie weh wohl eine Landung tun musste, wenn man so weit oben
in der Luft war, wie es die Flugzeuge waren. Nein, Fliegen wollte er nicht.
Darum antwortete er:
„Ich bin da nicht sicher.
Müssen wir denn dann auch – Fliiiiiieegen?“
„Wenn du nicht willst, dann
nehmen wir einfach das Schiff.“
Jetzt fiel Fips nichts mehr
ein, was er gegen Amerika einwenden konnte. Außerdem konnte er sowieso nicht
Nein sagen, wenn er in Fienchens begeistertes Gesicht schaute. Also beschlossen
die beiden, am nächsten Samstag nach New York zu reisen. Die folgenden Tage
waren voll gepackt mit allen möglichen Vorbereitungen, die sie für die lange
Reise treffen mussten. Zunächst einmal überlegten sie sich, was sie in New York
alles besichtigen wollten. Jeder wollte etwas anderes sehen. Fips wünschte sich
sehr, Ellis Island zu besichtigen. Dort war schon vor vielen, vielen Jahren
sein Ur-ur-ur-ur-ur-großvater angekommen, als er nach
New York ausgewandert war. Früher kamen dort alle Auswanderer an. Heute gab es
dort ein Museum. Außerdem wollte er unbedingt das Rockefeller Center sehen.
Fienchen hatte vor, auf der Fifth Avenue einkaufen zu
gehen. Zusätzlich träumte sie schon seit langer Zeit davon, einmal die riesigen
Leuchtreklamen des Times Square in Wirklichkeit zu sehen. Beide wollten mit dem
Aufzug im Empire State Building ganz nach oben fahren
und danach einen Spaziergang durch den Central Park machen. Das würde bestimmt
ein sehr anstrengender, aber auch sehr spannender Tag in New York werden.
Nachdem klar war, was sie
alles sehen wollten, meinte Fienchen, dass sie für eine so lange Reise ja auch genug zu essen
mitnehmen mussten. Sie brauchten mindestens das zweite Frühstück, das
Mittagessen und vielleicht sogar das Abendbrot. Der Rucksack von Fips würde
sehr voll werden. Aber schließlich fuhren sie ja auch nicht jeden Tag nach New
York. Letztendlich überlegten sie, mit welchem Schiff sie wohl dorthin reisen
können. Keiner von beiden war je da gewesen, und so hatten sie keine Erfahrung.
Sie überlegten, dass für eine so weite Reise bestimmt ein sehr großes Schiff
notwendig sein würde. Folglich beschlossen sie, am Samstag zum Fluss zu gehen,
und nach einem sehr großen Schiff Ausschau zu halten. Sie waren fest davon
überzeugt, dass sie ein solches Schiff nach Amerika bringen musste.
Je näher der Samstag
rückte, umso aufgeregter wurden die beiden. Als es endlich so weit war, hatte
Fips schon alles eingepackt und war fertig, als Fienchen zu ihm kam. Sie konnte
ihren Augen kaum glauben. Immer wieder fragte sie:
„Hast du alles? Nichts
vergessen? Alles eingepackt?“
Fips hatte alles 9-mal
kontrolliert und war sich sicher, dieses mal nichts vergessen zu haben. Auf dem
Weg zu Fluss erzählten sie sich immer wieder, wie es werden würde, was sie
alles sehen könnten, und vor allem, wie viel sie nach der Rückkehr ihren
Freunden erzählen würden. Trotz der Vorfreude wurde Fienchen ein ungutes Gefühl
nicht los, denn Fips vergaß eigentlich immer etwas. Aber was auch immer sie
erfragte, Fips hatte daran gedacht. Sie waren bereits kurz vor dem Fluss, als
sie erneut fragte:
„Stadtplan! Fips, hast du
an einen Stadtplan von New York gedacht?“
„Ähm,
also,“ Fips bekam rote Ohren, „nein, habe ich nicht. Aber den brauchen wir doch
auch nicht. Oder haben wir hier in unserer Stadt jemals einen Stadtplan
gebraucht?“
Wirklich überzeugt war
Fienchen nicht, aber da es zu spät war, um umzukehren, gingen sie weiter.
Kurze Zeit später waren sie
am Fluss und bereiteten ihr zweites Frühstück vor, um die Wartezeit auf das
große Schiff zu verkürzen. Gerade als sie fertig gegessen hatten, legte am Ufer
ein sehr großes Schiff an. Es gingen sehr viele Menschen an Bord, bestimmt 40
oder 50 Personen, bepackt mit Tüten und Taschen. Zusätzlich fuhren auch
Fahrräder und Autos auf das Schiff. Fips und Fienchen schauten sich an und
nickten. Ja, das musste es sein, ihr Schiff nach New York. Schnell suchten sie
alle Sachen zusammen, die sie beim Frühstück gebraucht hatte und huschten in
letzter Minute auf das Schiff. Ganz vorne am Bug des Schiffes fanden Sie ein
aufgerolltes Tau, in dessen Mitte sie es sich richtig gemütlich machten. Hier
wollten sie warten, bis sie in New York ankamen. Ihnen war klar, dass es eine
weite Fahrt war, darum hatten sie auch ein Kartenspiel mitgebracht, um sich die
Zeit zu vertreiben. Sie hatten schon acht Runden Mäuse-Mau
Mau gespielt, als Fips anmerkte, dass es wohl nicht mehr lange dauern könne,
denn sie wären ja schon eine lange Zeit unterwegs. Aber sie mussten noch vier
weitere Runden spielen, bevor das Schiff endlich seine Fahrt verlangsamte. Als das Schiff auf das Ufer zu
fuhr, sprangen sie sofort auf und schauten durch die Reling – so heißt das
Geländer außen an einem Schiff – hindurch. So sehr sie sich auch bemühten, so
sehr sie auch rechts und links schauten, sie konnten die Freiheitsstatue nicht
entdecken. Auch das Rockefeller Centre oder das Empire State Building waren nirgendwo zu finden. Sie konnten nur einen großen
Wald am Ufer sehen, mit einem Fluss und einer weiten Wiese. Nach allem, was
Fips gehört und gelesen hatte, musste das der Central Park sein. Fips hatte
nicht gedacht, dass er so nah am Ufer lag, aber ihm konnte es nur Recht sein,
denn so brauchten sie nicht lange zu suchen und nicht weit zu laufen. Sie
konnten es kaum erwarten, bis das Schiff endlich anlegte.
Aufgeregt standen sie herum
und warteten darauf, dass sie an Land gehen konnten. Als sie von Bord gegangen
waren, liefen sie sofort los, um sich den Central Park anzuschauen. Dort
angekommen, stellten sie fest, dass er auch nicht viel anders war, als die
wilde Wiese, auf der sie bei einem Ausflug einmal vor der großen Katze hatten
fliehen müssen. Er war schön, aber allein dafür hätte sich die Reise nicht
gelohnt. Also machten sie sich auf die Suche um ihre anderen Ziele zu finden.
Fast eine Stunde waren sie nun schon am Ufer entlang gelaufen, aber außer
einigen Kühen und einem Bauern auf einem
Traktor hatte sie noch nichts von dem gefunden, was sie in New York besichtigen
wollten. Der Proviant in Fips’ Rucksack ging langsam zur Neige und es würde
nicht mehr lange dauern, und er würde schlechte Laune bekommen. Da kam ihnen
auf dem Weg eine andere Maus entgegen. Fienchen nahm ihren ganzen Mut zusammen
und sprach die Maus an:
„Sorry,
wir sind fremd hier. Wo ist denn die Freiheitsstatue? Oder die Fifth Avenue? Oder das Rockefeller Center?“
Die fremde Maus schaute
Fienchen verdutzt an und sagte kein Wort. So standen sie sich eine kurze Weile
schweigend gegenüber, bis Fips sagte:
„Fienchen, vielleicht
versteht sie dich nicht. Vielleicht sprechen die Mäuse in Amerika eine andere
Sprache? Vergiss nicht, wir sind jetzt in New York!“
Da reagierte die andere
Maus und lachte laut auf. Als das Lachen nachließ, sagte sie:
„Amerika? New York? Ihr
beiden wollt mich doch verulken. Hier ist der Bauernhof von Bauer Kornhuber.
Das hier ist ebenso wenig Amerika, wie ich eine Katze bin.“
„Bauer Kornhuber? Nicht
Amerika? Aber wo ist denn dann Amerika?“ brachte Fips heraus.
„Ihr beiden wolltet also
wirklich nach Amerika?,“ sagte die fremde Maus und lachte noch einmal. „Ihr
Spaßvögel. Jedes Mäusekind weiß doch, dass man immer der Sonne hinterher gehen
muss, wenn man von hier nach Amerika kommen will, besonders am Abend. Und ihr
geht gerade genau in die andere Richtung.“
Fips und Fienchen schämten
sich und es ärgerte sie auch etwas, dass sie so ausgelacht worden waren.
Schnell verabschiedeten sie sich und gingen zurück. Inzwischen war der Proviant
leer und sie hatten noch die ganze Rückfahrt vor sich. Zum Glück mussten sie
nicht lange auf ein Schiff warten, welchen sie wieder nach Hause brachte. In
der Wohnung von Fips stillten sie zunächst einmal ihren Hunger. Fienchen begann
als erste zu sprechen:
„Also, wir haben Amerika und
New York heute nicht gefunden. Aber wir hatte trotzdem einen langen und schönen
gemeinsamen Ausflug. Wenn wir es nächsten oder übernächsten Samstag noch einmal
versuchen, dann planen wir das einfach ein bisschen besser. Dann sollten wir
auch alles finden, was wir sehen wollen, und keiner lacht mehr über uns. Und
dann können wir unseren Freunden alles erzählen. Was denkst du darüber, Fips?“
Fips antwortete nicht. Er
war von dem Ausflug so müde geworden, dass er in seinem Sessel eingeschlafen
war. Der letzte Keks war ihm aus der Hand gefallen und lag auf seinem kleinen
Bauch. Allerdings sah Fienchen das schon nicht mehr, denn sie schlief jetzt
auch tief und fest.
AB, Altglashütten
05.06.2005