Zurück zur Hauptseite        ||             Home   

 

Dörchen Drösel

Von Axel Baumgart

 

Einmal im Jahr musste Legau sein Zimmer aufräumen. Und zwar richtig. Da genügte es ausnahmsweise einmal nicht, die Spielsachen und was sonst so herumlag einfach unter das Bett zu schieben, wo seine Eltern sie nicht sahen. Alles musste sortiert, sauber gemacht, gestapelt, in Schränke geräumt und in Regal gestellt werden. Alles was Kaputt war, musste entweder repariert oder weggeworfen werden. Seine Lieblingsjeans und sein Lieblings T-Shirt wurden immer an diesem Tag gewaschen, auch wenn sie noch gar nicht dreckig waren und Legau sie erst 3 Wochen anhatte. Legau hasste diesen Tag. Er kam immer wieder, und immer war es viel zu früh. Legau wusste immer schon kurz vorher, dass es bald wieder so weit sein würde. Denn immer, bevor es soweit war, kam ein Brief für seine Eltern mit der Post. Sobald Legaus Mutter den Brief gelesen hatte, hüpfte sie vor Freude durch die Gegend und rief ganz aufgeregt: "Dörchen kommt, juchhu, Dörchen kommt!" Und Legau dachte: "Au weia, schon wieder, Tante Dörchen kommt,"

Dorothea Agatha Katharina Josephina Klara Tamara Wilhelmina Despotia Drösel, ja, das war der vollständige Name von Legaus Tante. Sie war noch ein Kind gewesen, als schnell klar wurde, dass dieser Name nicht praktisch war. Er war zu lang, um ihn sich zu merken, und immer wenn Legaus Tante zum Essen gerufen wurde, war es meistens schon kalt, bevor sie überhaupt wusste, dass sie gemeint war. So kam es, dass schon sehr früh Dorothea Agatha Katharina Josephina Klara Tamara Wilhelmina Despotia einen Spitznamen bekam: Dörchen Drösel. Seit dieser Zeit wurde die Schwester von Legaus Mutter, Legaus Tante, von allen nur noch Dörchen genannt.

Legau war der Meinung, dass dieser Name so gar nicht passte. Dörchen klang irgendwie lieb, gutmütig und freundlich. Das waren aber gar nicht die Gedanken, die Legau hatte, wenn er an Tante Dörchen dachte. Er dachte an nasse Küsse, die nach irgendeinem Parfüm stanken, an dauerndes Haareziehen, "um seine Frisur in Form zu bringen", und er dachte daran, dass er in seinem eigenem Zimmer nicht mehr zu sagen hatte. Wenn Tante Dörchen da war. lagen überall in seinem Zimmer langweilige Sachen herum, die er nicht einmal berühren durfte: Kämme, Bürsten, Ringe, Ketten, Brillen, Zeitschriften, große hässliche Schuhe, Sachen, deren Zweck er mit all seiner Phantasie nicht ergründen konnte und noch vielmehr. Tante Dörchen machte die Unordnung, die er so mühsam beseitigen musste. Und das alles nur, weil Tante Dörchen unbedingt in seinem Zimmer schlafen musste. Viel schlimmer: Er musste auch dort schlafen und hatte so kaum eine Chance, ihr zu entkommen.

Heute war Legau mit einer richtig guten Laune (Legau nannte das seine Lieblings-Laune) nach hause gekommen. Aber leider dauerte seine Lieblings-Laune nicht lange an. Schon nach kurzer Zeit konnte er in seinem Zimmer hören, wie seine Mutter im Wohnzimmer vor Freude durch die Gegen hüpfte und rief: "Dörchen kommt, juchhu, Dörchen kommt." Legau dachte ein ganz schlimmes Wort und auch noch: "Es war so ein schöner Tag bis jetzt, und jetzt ist alles vorbei." Da Legau genau wusste, was als nächstes kommen würde, versuchte er alles, um zu verhindern, was nicht zu verhindern war. Er gab vor, Hausaufgaben zu machen, mit einem Freund verabredet zu sein, sich krank zu fühlen, er versteckte den Brief an seine Mutter und sagte, es sei nie einer angekommen. Es half alles nichts. Es gab wieder das volle Programm: Aufräumen, Sortieren, Jeans waschen, Baden - einfach alles. Irgendwann war es dann soweit: Legaus Zimmer sah nicht mehr aus wie Legaus Zimmer, Legau sah nicht mehr aus wie Legau und fühlte sich auch nicht mehr so, und Legaus Mutter war zufrieden.

Für Legau viel zu früh klingelte es an der Tür. Er hoffte ganz stark. Aber es half nichts. Natürlich war es Tante Dörchen. Aber dieses Mal war sie nicht alleine. Da war noch ein Mann, etwas älter als Legaus Vater, und auch etwas größer. Aber noch bevor Legau ihn in Augenschein nehmen konnte, kam Tante Dörchen über ihn. "Da ist ja mein kleiner Liebling!" Dicke nasse stinkende Küsse folgten. Wie Legau das hasste. "Und wie du aussiehst!" Schon wieder so ein Schlabberkuss. "Lass mich doch einmal Deine Haare in Form bringen!" Jetzt ging das Haareziehen los. Legau dachte nur daran, wegzulaufen und hatte den fremden Mann schon ganz vergessen, als dieser sagte: "Dorothea Agatha Katharina Josephina Klara Tamara Wilhelmina Despotia, ich glaube nicht, dass Legau das mag. Du bist doch Legau, oder? Ich bin Joachim Karl Herbert, oder für Freunde: Achim."

Legau mochte Achim auf Anhieb. Als Tante Dörchen und Achim im Wohnzimmer saßen, erfuhren Legaus Eltern, dass Achim Dörchen Freund war, und dass die 2 heiraten wollten. Legau war das egal. Er mochte Achim trotzdem. Außerdem war Legau viel zu neugierig. Achim hatte ein großes Paket mitgebracht  Es war in buntem Papier verpackt und lag neben seinem Stuhl auf dem Boden. So oft wie Legau nur konnte, schaute er heimlich zu dem Paket. Er konnte aber nicht erraten, was es war, und fragen traute er sich nicht. Es gab Kaffe und Kuchen, es wurde viel geredet und der Kuchen war bald gegessen, und Legau war der Lösung des Paket-Rätsels nicht ein klitzekleines Stück näher gekommen.

Endlich nahm Achim das Paket in die Hand, schaute Legau an, und legte das Paket sofort wieder weg, als Tante Dörchen sagte: "Tja, meine Lieben, es tut mir Leid, aber leider kann ich heute nicht über Nacht bleiben, wir wollen auch noch zu Achims Familie". Es dauerte eine Weile, bis Legau es genau verstanden hatte: " ... nicht ... über ... Nacht ... bleiben ...". Er hatte sein Zimmer wieder für sich alleine! Es sah ganz so aus, als würde seine Lieblings-Laune wieder kommen.

Endlich nahm Achim das Paket wieder in die Hand und legte es auch nicht wieder weg. Er gab es Legau und sagte: "Du wirst schon wissen, was man damit macht." Legau riss das Papier auf und starrte auf den Inhalt Wie hatte Achim das wissen können? Es war der schönste Flugdrachen, den Legau jemals gesehen hatte. Er wollte immer schon so einen Drachen haben, um ihn mit seinem Vater auf dem Feld steigen zu lassen. Und jetzt hatte er den schönsten von allen Drachen. Ja, kein Zweifel, seine Lieblings-Laune war wieder da.

Wenn Tante Dörchen und Achim in Zukunft immer zusammen kamen, hatte Legau nun ein Problem: Sollte er sich vor Tante Dörfchens Besuch furchten, oder auf Achims Besuch freuen?

 

AB, Heringsdorf (Usedom), 22.09.2004

 

 

Zurück zur Hauptseite        ||             Home