Legau und die Nase vom Nikolaus
Von Axel Baumgart
Solange Legau sich zurück erinnern
konnte, wollte er immer schon wissen, wie sich die Nase vom Nikolaus anfühlte. Diese große, rote, dicke Nase, die über dem wuschligen,
weißen und langen Bart mitten aus dem Gesicht heraus ragte. Warum das so war,
konnte sich Legau auch nicht erklären. Die Nase sah fast aus, wie die Nase von
Norbert Neunmalklug, dem Lehrer der Dorfschule von Bregenbrett und Drögenbröt.
Aber jeder wusste, dass Herr Neunmalklug immer dann, wenn der Nikolaus nach
Bregenbrett kam, zu seiner Schwester nach Drögenbröt musste.
Legau überlegte schon sehr lange, wie
er es dieses Jahr wohl schaffen könnte, endlich die Nase vom Nikolaus
anzufassen. Zuerst hatte er überlegt, so zu tun, als würde er stolpern. Dann
könnte er hinfallen, und dabei, ganz zufällig, dem Nikolaus an die Nase fassen.
Aber da war das Risiko, dass er sich beim Fallen weh tat, oder noch schlimmer,
die Nase nicht zu fassen bekam. Legaus nächste Idee war, dass er den Nikolaus
ja einfach fragen könnte. Aber so einfach, wie er fragen konnte, konnte der
Nikolaus auch „Nein“ sagen, und dann war die Gelegenheit für immer vorbei. Wenn
er auf der Weihnachtsfeier nach vorne zum Nikolaus gerufen würde, könnte er
auch so tun, als hätte der Nikolaus irgendetwas auf den Nase. Aber ihm fiel
nichts ein, was ein Nikolaus auf der Nase haben könnte. Also blieb nur die
letzte Idee: Er würde nach vorne gehen, sich wie jedes Jahr auf das Knie des
Nikolauses setzten, und dann in einem günstigen Augenblick dem Nikolaus kurz in
die Nase kneifen. Ja, genauso würde er es machen: Einen günstigen Augenblick
abwarten, und dann – zack – kurz in die Nase kneifen. Dann würde er endlich
wissen, wie sie sich anfühlte, die große, rote, dicke Nase. Jetzt, nachdem er
seinen Plan so gut ausgearbeitet hatte, freute er sich noch mehr auf die
Weihnachtsfeier. Es dauerte noch eine ganze Woche, bis es endlich so weit war,
und Legau konnte es gar nicht mehr erwarten.
Endlich war der große Tag da: Alle
hatten sich besonders fein gemacht, ihre Sonntagsanzüge angezogen, die Zähne
extra lange geputzt, waren vorher bei Heribert Haarschmitt, dem Friseur,
gewesen und die Schuhe waren blitzblank geputzt. Jetzt saßen alle im großen
Festsaal an einem langen Tisch. Auf jeder Seite vom Tisch saßen 17 Menschen und
vor Kopf saß Roland Regens, der Bürgermeister. Die andere Kopfseite des Tisches
war frei, denn Norbert Neunmalklug, der Lehrer, war, wie jedes Jahr, nicht da.
Das war auch ganz praktisch so, auf diese Weise konnte sich der Nikoalus dort
an das Ende des Tisches setzen, und alle konnten ihn sehen. Wenn der Nikolaus
doch nur endlich kommen würde. Es hatte in den letzten Jahren immer sehr lange
gedauert, bis er da war. Alle mussten nach Kräften die schönsten
Weihnachtslieder singen. Immer wieder und wieder. Die Erwachsenen tranken Kaffe
oder Tee, die Kinder heiße Schokolade, und alle aßen die leckersten
Weihnachtskuchen. Das lange warten auf den Nikolaus bedeutete natürlich auch,
dass die Kinder reichlich Zeit hatten, um über das eine und das andere
nachzudenken. Würde der Nikolaus wieder für jeden ein lange ersehntes Geschenk
mitbringen? Würde er wieder ganz genau wissen, was man in der Schule angestellt
hatte, oder ob man das ganze Jahr lieb gewesen war? Würde er wieder wissen,
wann man nicht auf seine Eltern gehört hatte? Legau dachte in dieser Zeit an
verschiedene Sachen, wie zum Beispiel ganz viele Käfer im Haus oder auch
Gummibärchen im Katzenfell. Wenn der Nikolaus das alles wusste, würde es vielleicht zum ersten Mal kein Geschenk geben.
Andererseits hatte er aber auch den Schimpfwortwettbewerb für Bregenbrett
gewonnen. Das musste doch auch etwas zählen, oder? Legau dachte auch daran,
dass das Geschenk nicht ganz so wichtig war, weil er ja heute endlich erfahren
würde, wie sich die Nase anfühlte.
Nach fast unendlich langer Zeit und
vielen, vielen Liedern glaubte Legau schon, der Nikolaus würde nicht mehr
kommen. Doch da ging plötzlich eine Aufregung durch die Erwachsenen und am
Tisch wurde getuschelt und geflüstert. Legau wusste aus den letzten Jahren:
Jetzt war es gleich soweit. Endlich! Es wurde ein großer goldener Stuhl an das
freie Ende des Tisches gestellt, daneben wurde ein kleinerer Tisch aufgebaut.
Als alles fertig und vorbereitet war, ergriff der Bürgermeister Roland Regens
das Wort und sagte:
„Wie ich soeben erfahren habe, ist der
Nikolaus jetzt auf dem Weg zu uns, aber er kann wohl den Weg nicht finden, weil
er uns nicht hören kann. Lasst uns noch einmal besonders schön und ganz laut
singen.“
Das Lied war noch nicht zu Ende, da
ging die Tür auf, und … und … und … Da war er. Sein weiter roter Mantel schien
die ganze Festhalle in ein rotes Licht zu tauchen. Sein langer weißer Bart
leuchtete hell und seine gütigen Augen strahlten aus dem Gesicht. Seine Nase
aber, die schien seit dem letzten Jahr noch größer, noch dicker und noch roter
geworden zu sein. Langsam schaute sich der Nikolaus in der Festhalle um und
brummte:
„Hm, Hm, sehr schön. Schön habt ihr das
gemacht. Und alles so schön geschmückt. So feierlich. Wartete ihr auf
jemanden?“
Alle riefen:
„Ja, wir warten auf Dich, lieber Nikolaus“
„Na, da ist es ja gut, dass ich endlich
hier bin,“ brummte er mit seiner tiefen Stimme. „Ist dieser wunderbare große
Stuhl hier vorne für mich? Und der Tisch, soll ich da mein schlaues goldenes
Buch drauflegen?“
Voller
Erwartung riefen allen Kinder: „Ja, ja, ja.“
Der Nikolaus ging um den Stuhl herum,
richtete seinen langen Mantel, strich sich über den Bart, murmelte leise: „So
ein schöner Stuhl…“ und setzte sich langsam mit einem kaum hörbaren Stöhnen
„Haaach!“ auf den Stuhl, indem er sich mit den Händen auf den Knien abstützte
und dann langsam rückwärts fallen ließ. Der Nikolaus war eben schon ein alter
Mann. Aber er war sehr weise. Er wusste immer ganz genau, was im vergangenen
Jahr in Bregenbrett passiert war. Natürlich kamen immer alle Kinder dran und
mussten nach vorne zu ihm, um sich sagen zu lassen, was sie gut, und was sie
nicht so gut gemacht hatten. Und dann gab es immer ein Geschenk. In manchen
Jahren kam es aber vor, dass auch Erwachsene nach vorne mussten. So war es auch
in diesem Jahr. Der Nikolaus ließ seine volle Stimme ertönen:
„Ist hier jemand, der Lothar Leder
heißt und Schumacher ist?“ Ein leises Kichern war zu hören. „Ja, hier.“ „Dann
komm doch einmal nach vorne, mein lieber Lothar.“ Lothar Leder ging nach vorne
und hockte sich vor den Nikolaus hin. „Ich habe gehört, du bist ein ganz
mutiger.“ Lothar guckte verdutzt und verstand nichts. „Ich habe gehört, dass
Ihr ein Gespenst in Bregenbrett hattet, und keiner hat sich in den Kirchturm
getraut. Aber Du bist ganz alleine dort hinauf und hast das Gespenst
vertrieben. Mutig, mutig.“ „Aber, aber das war doch gar kein Gespenst, sondern
nur …“ „Aber es hätte eines sein können. Und deshalb bekommst Du von mir den
Titel „Mutiger Lothar“ und darfst dich ein ganzes Jahr lang so nennen.“ Mächtig
beeindruckt und mit einem strahlenden Lächeln ging der Mutige Lothar zu seinem
Platz zurück.
„Gibt es denn hier“, setzte der
Nikolaus nun etwas leiser an, „auch jemanden, der Roland Regens heißt und
Bürgermeister ist?“ Jetzt wurde es ganz still im Saal. „Ja, hier,“ meldete sich
ein stolzer Roland Regens. „Dann komm auch Du einmal zu mir nach vorne. Du bist
also der Bürgermeister. Ein Bürgermeister muss doch dafür sorgen, dass in
seinem Dorf immer alles in Ordnung ist, kaputte Sachen repariert werden, und so
weiter. Ist das richtig?“ „Aber ja, das ist meine Aufgabe.“ „Und hast Du das
auch immer gut gemacht im letzten Jahr?“ „Ja!“ kam die schnelle Antwort. Der
Nikolaus nahm das dicke Buch, blätterte ein paar Seiten vor und eine wieder
zurück. Dann sagte er: „War da nicht dieses Jahr eine kaputte Straßenlaterne,
die nicht repariert wurde, oder der Spielplatz, auf dem einige Spielzeuge eine
ganze Zeit lang nicht funktionierten?“ „Ähem, tja, also, weißt Du lieber
Nikolaus, ich glaube, da …“ „Willst Du Dich denn bemühen, das alles nächstes
Jahr besser zu machen?“ „Aber ja, ganz bestimmt lieber Nikolaus.“ Roland Regens
war sehr froh, als er endlich wieder auf seinen Platz zurück gehen durfte.
Tief tönte es anschließend in den Saal:
„Legau, der Schimpfwortmeister aus Bregenbrett, ist der heute hier?“ Mit dünner
Stimme antwortete Legau: „Hier bin ich.“ Er ging nach vorne und setzte sich
schüchtern auf das Knie vom Nikolaus. „Legau, Legau, was soll ich nur zu Dir
sagen. Einerseits hast Du für Bregenbrett den Schimpfwortwettbewerb gewonnen.
Aber auf der anderen Seite hast Du Deiner Katze ganz viele Gummibärchen ins
Fell geklebt und hast Deinen Eltern furchtbar viele Käfer ins Haus gebracht,
die man fast nicht wieder gefunden hätte, hinter all den Schränken.“ Legau war
ganz flau im Magen. Woher wusste der Nikolaus nur immer so viel. „Legau, was
meinst Du denn, warst Du im letzten Jahr alles in allem ein lieber Junge?“,
wollte der Nikolaus wissen. „Ja, doch schon, ein bisschen,“ antwortete Legau
verlegen. „Dann will ich das einmal so glauben und Dir Dein Geschenk geben.“
Puh, war Legau erleichtert, dass es so gut gelaufen war für ihn. Das Geschenk
war eine super tolle Lupe, mit der er sich die Käfer im Wald noch besser
anschauen konnte. Als er wieder auf seinen Platz zurückging, dachte er nur,
dass er irgendetwas vergessen hatte. Er setzte sich wieder hin, nahm seinen
Kakao, schaute nach vorne, wo jetzt ein anderes Kind beim Nikolaus war, und
dachte: „Oh NEIN, die NASE. Ich habe wieder nicht die Nase gefühlt. So ein
Ärger.“
Er nahm sich ganz fest vor, das mit der
Nase im nächsten Jahr besser zu machen.
FFM, 13.12.2004 AB