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Windpocken

Von Axel Baumgart

 

Gestern war es Legau noch gut gegangen. Am Nachmittag war er etwas müde gewesen, aber das war nicht schlimm. Als er heute Morgen wach geworden war, hatte er kleine rote Punkte auf dem Bauch, die ganz furchtbar juckten. Auf dem Rücken juckte es auch, aber dort konnte er ja nicht hinsehen. Legau war genau von diesem Jucken wach geworden. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gehabt. Schnell lief er in die Küche zu seinen Eltern, die bereits beim Frühstück saßen.

Er zeigte seiner Mutter die roten Punkte auf dem Bauch.

Sie fragte: „Jucken die auch?“

„Ganz furchtbar. Ich will, dass das aufhört!“

„Na, das wird wohl noch etwas dauern. Das sieht ganz aus wie Windpocken. Das kann noch etwas dauern, bis es wieder weg ist.“

Legau war ganz egal, wie seine Mutter diese Punkte nannte. Er wollte nur, dass das Jucken aufhörte. Aber wenigstens hatte seine Mutter gesagt, dass er es nie mehr bekommen würde, wenn es einmal abgeheilt war. Wenigsten etwas. Richtig schlimm fand Legau, dass seine Mutter ihm verboten hatte, sich an den juckenden Stellen zu kratzen. Das war ja eine richtige Folter. So etwas konnte sie ihm doch nicht antun! Das Jucken wurde den ganzen Tag immer schlimmer und am Nachmittag hatte er die roten Punkte auch auf den Armen und den Beinen. Er kannte einen Käfer, der sah so ähnlich aus. Wenn er im Wald wieder einmal so einen sah, wollte er ganz besonders darauf achten, ob der Käfer sich oft kratzen musste.

Heute war Sonntag und morgen musste Legau wieder in die Schule. Jeder seiner Freunde würden ihn auslachen. Aber so weit kann es gar nicht. Seine Mutter sagte ihm kurz vor dem Abendessen, dass er nicht zur Schule gehen brauchte. Und zwar so lange, bis er wieder ganz gesund war. Hatte seine Mutter am Morgen nicht gesagt, dass es eine ganze Zeit dauern würde, bis er wieder gesund sei? Na gut, dann würde es eben eine Zeit dauern. Ohne Schule! Ohne Hausaufgaben!

Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass Windpocken eine Kinderkrankheit sind. Wenn man sie einmal hatte, konnte man sie nicht mehr bekommen. Hatte man sie aber als Kind nicht gehabt, konnten sie einem als Erwachsenen sogar gefährlich werden. Aber das bedeutete ja, das jedes Kind diese furchtbar juckenden Pocken einmal bekommen musste. Seine Mutter und sein Vater hatten sie auf jeden Fall als Kinder auch gehabt. Was für eine seltsame Krankheit.

Tags darauf bekam er Besuch von zwei Freunden, die sich anstecken sollten. Zuerst lachten die beiden schrecklich, aber dann wurde es ein richtig schöner Nachmittag. Seine Mutter hatte Legaus Lieblingskuchen gebacken. Dazu gab es Apfelsaft, heißen Kakao und sogar noch selbstgebackene Kekse. Legau fühlte sich sehr schlapp und die juckenden roten Flecken waren wirklich keine Freude. Trotzdem tat es gut, seine Freunde um sich zu haben, und nicht alleine zu sein. Die Freunde erzählten aus der Schule und brachten seine Hausaufgaben mit. Das hatte Legau nicht erwartet, als seine Mutter gesagt hatte, dass er nicht zur Schule gehen musste. Er fand es sehr ärgerlich, dass er trotzdem Hausaufgaben machen musste. Er war doch krank! Nicht einmal dann blieb er vor den doofen Hausaufgaben verschont.

Der nächste Tag hielt noch ein paar Überraschungen für Legau bereit. Nicht nur, dass die juckenden roten Punkte jetzt auch auf und unter seinen Füßen waren und jeden Schritt zur Qual machten, nein, auch mitten auf der Nase war ein ganz besonders großer und leuchtender Punkt, fast so groß wie ein Pickel. Wenn das so weiterging, konnte Legau nächstes Jahr zu Karneval als Indianer gehen, ohne sich rot anmalen zu müssen. An das Jucken würde er sich schon irgendwann gewöhnen. Nein! Niemals! Warum durfte er sich denn nur nicht kratzen? Seine Freunde blieben jetzt auch immer kürzer, denn natürlich hatten alle etwas vor, wollten draußen spielen, aber sie brachten nach wie vor jeden Tag die Hausaufgaben vorbei. Wenn es nach Legau gegangen wäre, hätte ausgerechnet das nicht sein müssen.

Legau wurde es zu Hause immer langweiliger. Er hatte alle Bücher gelesen, die Kassetten mit Kindergeschichten konnte er schon auswendig mitsprechen und im Fernsehen kam auch nichts Neues mehr. Gestern hatte er sich aus lauter Langeweile lustige Gesichter mit einem Kugelschreiber auf den Bauch gemalt, wobei jeweils eine Windpocke ein Auge war, und manchmal gab es sogar eine besonders große als Nase. Der Mund war immer ein Strich mit dem Kugelschreiber. Aber bald machte auch das keinen Spaß mehr. Die Langeweile war so stark, dass Legau dabei sogar das Jucken ganz vergas. Er überlegte stattdessen, ob er vielleicht einmal die Teller und Tassen im Haus verstecken sollte, damit seine Eltern sie suchen konnten. Das wäre ein Spaß. Oder er könnte seinem Vater einfach einmal die Schnürsenkel seiner Schuhe zusammen knoten. Morgens hatte sein Vater es immer furchtbar eilig und würde bestimmt ganz stark schimpfen, wenn dann die Schuhe zusammengebunden waren. Vielleicht könnte Legau dabei ja auch noch das eine oder andere Schimpfwort lernen.

Zu all dem kam es aber nicht. Noch bevor Legau sein Pläne umsetzten konnte, kam der Arzt und bestätigte, dass die Windpocken abgeklungen seien (deshalb hatte es auch nicht mehr gejuckt) und Legau nun wieder zur Schule gehen konnte.

So ging Legau am nächsten Tag also wieder dorthin. Anschließend besuchte er seine Freunde, die nun selber die Windpocken hatten. Natürlich hatte sie keiner so schlimm, wie Legau sie gehabt hatte, aber sie sahen auch ziemlich lustig aus und Legau musste Lachen.

Und dann musste er sich noch ganz stark entschuldigen. Denn obwohl seine Mutter und der Lehrer ihn mehrfach daran erinnert hatten, die Hausaufgaben für seine Freunde mitzunehmen, hatte er es irgendwie vergessen. Er versprach – mehr den Müttern als seinen Freunden – morgen ganz bestimmt daran zu denken. Heimlich war er aber nicht sicher, ob er es schaffen würde …

 

 

 

AB, Frankfurt, den 09.02.2004

 

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