Der Geheimbote
Von Axel Baumgart
Legau und Jona waren schon vor dem Seifenkistenrennen gute
Freunde und das Rennen hatte daran nichts geändert. Im Gegenteil: Ihre
Freundschaft hatte sich vertieft. Sie waren jetzt noch öfter als früher
gemeinsam unterwegs und alle nannten sie nur noch „das Duo“. Legaus Mutter
hatte schon gesagt, sie seien eine richtig verschworene Gemeinschaft. Dieser
Begriff ging Legau nicht mehr aus dem Kopf: Verschworen. Eine verschworene
Gemeinschaft. Das klang geheimnisvoll und auch ein wenig verboten. Einfach
toll. Ja, er wollte verschworen sein. Bald schon merkte er, dass er dafür Jona
brauchte, denn alleine verschworen zu sein war langweilig. Deshalb fragte er
ihn eines Tages:
„Du, Jona, hast du Lust mit mir eine verschworene
Gemeinschaft zu gründen?“
„Klar“, antwortete Jona, „aber wie geht das und was muss
ich tun?“
„So genau weiß ich das auch noch nicht. Aber es muss auf
alle Fälle sehr verschworen sein,“ gestand Legau. Dann kam ihm eine Idee.
„Verschworen hat etwas mit Schwören zu tun. Wir müssen uns etwas schwören.“
„Was sollen wir uns denn schwören?“
„Wir gründen einen Geheimbund und schwören uns, dass wir
niemandem etwas davon sagen!“
„Super, genau das machen wir!“
Nach kurzer Beratung hatten sich die Freunde auf einen
Schwur geeinigt und sprachen feierlich:
“Wir geloben ein geheimer Geheimbund zu sein und keinem
Menschen etwas davon zu erzählen. Wir werden dieses Geheimnis für immer
bewahren. Das geloben wir.“
Verschwörerisch schauten sie sich um, ob sie auch niemand
belauscht hatte. Aber sie waren allein. Ab jetzt machten die gemeinsamen
Unternehmungen noch viel mehr Spaß, als Geheimbund. Wenige Tage später sagte
Jona:
„Legau, was denkst du, braucht ein richtiger Geheimbund
nicht auch einen Geheimboten?“
„Wau, super, klasse. Tolle Idee. Natürlich brauchen wir
einen Geheimboten. Aber – wer soll dass denn sein? Wir haben doch gelobt,
niemandem von unserem Geheimbund zu erzählen?“
„Keinem Menschen,“ bestätigte Jona. „Daran habe ich nicht
gedacht. Da gibt es wohl auch keine Lösung. Schade! Du, ich muss jetzt sowieso
erst einmal Glucks füttern. Kommst du mit?“
Glucks war das Meerschweinchen von Jona. Er war im
Augenblick allein, nachdem Brommsel gestorben war. Deshalb brauchte Glucks ganz
besonders viel Liebe und Aufmerksamkeit.
Glucks hieß Glucks weil er gluckste. Nicht nur, wenn er
auf dem Arm war, gestreichelt wurde und es ihm gut ging, sondern auch beim
Laufen. Bei jedem seiner kleinen schnellen Schritte machte es „glucks – glucks
– glucks“.
Glucks freute sich, als die beiden kamen, machte Männchen
und rannte ganz aufgeregt im Käfig herum. Obwohl er immer Heu in seinem Käfig
hatte, freute er sich auf sein Frischfutter. Am liebsten mochte er Gurke und
Löwenzahn. Kaum waren die Leckereien in seinem Käfig, stürzte er sich glucksend
darauf und begann zu fressen.
Während die Freunde Glucks beim Fressen zusahen, sagte
Legau leise flüsternd:
„Wir haben uns doch versprochen, keinem Menschen von
unserem Geheimbund zu erzählen,“ Jona nickte, „und gleichzeitig hätten wir
gerne einen Geheimboten.“
Dabei schaute er ganz lange und fest auf Glucks. Zuerst
wusste Jona nicht was Legau meinte, aber dann verstand er langsam.
„Du meinst, Glucks könnte …“
„… unser Geheimbote sein,“ vollendete Legau den Satz.
„Ja!“
„Wie soll das denn gehen“
„Wir schreiben geheime Botschaften, binden sie Glucks mit
einem weichen Band vorsichtig auf den Rücken,
und bringen ihm bei, diese Briefe von dir zu mir und wieder zurück zu bringen.“
„Genial! Legau, du bist ein Genie“
Schnell hatten sie einen Wollfaden gefunden und eine
geheime Botschaft auf einen Zettel geschrieben. „Hiermit nehmen wir Glucks in
unseren Geheimbund auf“ stand auf dem Zettel, der schnell zusammengerollt und
auf Glucks’ Rücken befestigt wurde. Legau und Jona setzten sich auf den Boden,
wobei sie darauf achteten, dass ein möglichst großer Abstand zwischen ihnen
war. Dann versuchten sie, Glucks zu sich
zu locken. Sie riefen seinen Namen, sie gurrten und glucksten und sie kratzen
mit dem Finger über den Teppich. Nichts half. Glucks schaute einmal hierhin,
einmal dorthin und entschied sich schließlich dafür, sich unter Jonas Bett zu
verstecken. Ratlos schauten sich die Freunde an. Jona war es, der dann die
Lösung fand. Er nahm ein Stück Gurke, hielt es so, dass Glucks es sehen konnte
und rief : „Gluuuucks, Gluuu-huuucks.“ Und tatsächlich kam das Meerscheinchen
heraus und begann munter an der Gurke zu knabbern. Legau verstand. Er nahm auch
ein Stück Gurke und setzte sich wieder auf den Boden. Jetzt versteckte Jona
sein Stück Gurke, streichelte Glucks und flüsterte:
„Glucks, lauf zu Legau. Zu Legau. Lauf jetzt.“
Gleichzeitig hielt Legau Glucks die Gurke hin. Nach
einigen Trippelschrittchen begleitet von munterem „glucks – glucks – glucks“
war der Geheimbote bei Legau. Die Freunde trainierten mit Glucks noch ein paar
Mal bis sie überzeugt waren, dass Glucks genau wusste, was er zu tun hatte. Jetzt
war er perfekt, ihr Geheimbund. Sie hatten einen Geheimboten, den sie möglichst
bald auf eine richtige Geheimmission schicken wollten. Sie verabredeten, dass
Jona Legau am nächsten Tag durch Glucks eine geheime Botschaft schicken sollte.
Glucks kannte ja den Weg, denn er war schon oft mit Jona bei Legau gewesen.
Jona konnte es kaum erwarten, bis er am nächsten Tag eine geheime Botschaft zu
Legau schicken konnte. Er schrieb auf einen Zettel: „Erste geheime
Geheimbundbotschaft: Hallo Legau, ich komme dich gleich besuchen. Gruß, Jona“.
Er rollte die Botschaft zusammen und befestigte sie auf Glucks’ Rücken. Er nahm
ihn auf den Arm und trug ihn vorsichtig zu dem Streifen aus Gras und
Sträuchern, der den Dorfplatz von den Häusern trennte. Dort setzte er Glucks auf
das Gras, streichelte ihn und flüsterte:
„Lauf Glucks, lauf zu Legau.“
Sofort lief das Meerschweinchen mit lautem glucks – glucks
– glucks los. Stolz und aufgeregt schaute Jona noch einen kleinen Moment, wie sich
Glucks langsam entfernte und ging dann nach Hause. In seinem Zimmer wartete er
ungeduldig auf Glucks Rückkehr mit einer Botschaft von Legau. Es kam ihm wie
eine Ewigkeit vor. Langsam wurde er unruhig. Seinem Gefühl nach hätte sein
Meerschweinchen schon längst wieder da sein müssen. Da fiel Jona ein, dass ein
Meerschwein ja gar nicht die Haustüre öffnen konnte. Bestimmt saß Glucks vor
der Tür und wartete nur darauf, herein gelassen zu werden. Jona sprang auf,
lief die Treppe herunter und öffnete die Türe. Doch statt auf Gluck traf er auf
Legau der sofort lospolterte:
„Wann schickst du denn endlich Glucks los? Ich sitze zu
Hause und nichts passiert.“
„Aber er ist doch schon eine ganze Weile unterwegs. Der
muss schon lange bei dir sein.“
Ratlos starten sich die Freunde an. Wo war Glucks, wenn er
weder bei Jona noch bei Legau war. Jona schaute ganz unglücklich aus und sagte
nur:
„Mein Glucks!“
„Jona, von wo hast du ihn denn losgeschickt?“
„Na von hier. Genauer gesagt, auf dem Grünstreifen da
vorne.“
„Dann lass uns doch da einmal nachsehen.“
Schnell liefen sie dorthin und suchten alles ab. Sie
krochen über das Gras, durch die Büsche und schauten hinter jeden Strauch.
Glucks blieb verschwunden. Von Jona zu Legau und den ganzen Weg zurück krochen
sie auf allen vieren. Sie waren furchtbar dreckig und hatten sich so manche
Schramme geholt. Eine volle und 12 leere Dosen Limo, 12 leere, 3 Plastiktüten,
1 Flasche und einen funktionierenden Kugelschreiber hatten sie gefunden. Glucks
blieb weiter verschwunden. Jona hätte weinen können und Legau ging es nicht
viel besser. So saßen sie vor Jonas Haustür: Die Knie aufgeschrammt, die Hände,
Kleidung und Gesichter schmutzig vom Rumkrabbeln. Sie waren völlig verzweifelt.
Da kam Timotheus Treuglaub, der Pfarrer von Bregenbrett,
vorbei. Als er sie sah, fragte er sofort:
„Was ist denn mit euch passiert?“
„Mir ist Glucks, mein Meerschweinchen, weggelaufen,“
antwortete Jona.
Es war nicht ganz die Wahrheit, aber auch keine richtige
Lüge. Jona fand, das war so gerade eben noch in Ordnung.
„Wie konnte das denn passieren?“
„Wir, …, ich meine, ich habe ihn hier, …, ich meine da
vorne, hingesetzt, und dann war er plötzlich nicht mehr da.“
Jona wusste, dass das keine besonders gute Erklärung war,
aber er wollte auch nicht lügen. Der Pfarrer schien sich aber mit der Erklärung
zufrieden zu geben.
„Ihr seht furchtbar traurig aus. Vielleicht kann ich euch
ja helfen. Kommt doch einfach einmal mit ins Pfarrhaus.“
„Aber wir müssen doch weitersuchen,“ kam der schwache
Protest von Legau. Im Grunde wussten die Freunde aber nicht mehr, wo sie noch
suchen sollten. So gingen sie schweigend und mit hängenden Köpfen mit ins
Pfarrhaus. Dort angekommen sagte Timotheus Treuglaub:
„Ich habe eine Überraschung für euch. Mir ist heute
nämlich ein Meerschweinchen zugelaufen. Vielleicht kennt ihr es ja.“
Er ging in das Nebenzimmer und kam mit einem
Meerschweinchen wieder. Als Jona es sah, schrie er vor Freude laut auf und
drückte es ganz vorsichtig fest an sich. Glucks war völlig unversehrt, aber die
Geheimbotschaft war nicht mehr da. Timotheus Treuglaub musste erzählen wann und
wo er Glucks gefunden hatte und als sich die Freunde schließlich von ihm
verabschiedeten, sagte er:
„Und passt auf, dass er euch nicht wieder – äh –
wegläuft,“ und kniff dabei verschwörerisch ein Auge zu.
Die Freunde waren froh, dass Glucks nichts passiert und
die Geschichte gut ausgegangen war. Trotzdem standen sie nun wieder ganz am
Anfang ihres Problems, welches sie aber an einem anderen Tag lösen wollten: Wer
sollte ihr Geheimbote sein?
AB, Altglashütten, den
15.09.2005