Ute Petkelis
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Von Ute Petkelis
Alle Kleinbuchstaben des Alphabets hatten sich
am Freitagnachmittag im Versammlungsraum der Letternfabrik versammelt.
Es herrschte großer Aufruhr, denn das kleine i hatte zu dieser Zusammenkunft
geladen. Was hatte diesen winzigen Buchstaben nur veranlasste, sie hierher zu
rufen?
Das große A, das als einziger Großbuchstabe die Versammlung leitete, trat ans
Rednerpult.
„Wir haben uns heute hier versammelt, weil i eingeladen hat. Weshalb dies
geschah, ist mir nicht bekannt. Deshalb möchte ich dich bitten, hier nach oben
zu kommen und uns mitzuteilen, weshalb du uns gebeten hast, hier zu
erscheinen.“ Groß-A machte eine einladende Bewegung in die Richtung des kleinen
i.
Dieses stieg die wenigen Stufen zum Pult hinauf.
„Ich habe euch heute zusammengerufen, weil ich mitteilen möchte, dass ich
vorhabe mich zu verändern“, rief es in den Saal und keuchte noch ein wenig von
der Anstrengung des Treppensteigens.
Ein Raunen wurde unter den Buchstaben hörbar. Klein-u bahnte sich einen Weg
nach vorne. „Was soll das heißen, du willst dich verändern?“, fragte es laut.
„Ich habe es satt, immer nur der kleine Strich mit dem Pünktchen obendrauf zu
sein“, erklärte Klein-i. „Ich fühle mich nicht mehr wohl. Alle Dinge im Leben
der Menschen verändern sich, nur wir Buchstaben sollen immer gleich bleiben.
Ich mag das nicht mehr leiden.“ Dabei stampfte der winzige Buchstabe mit dem
Fuß auf.
„Ja, aber wie hast du dir das denn gedacht?“, erhob Groß-A seine Stimme. „Wir
sind nun mal so erfunden worden und können uns doch nicht von heute auf morgen
ändern. Das ist unmöglich.“
„Nichts ist unmöglich“, trumpfte i auf. „Ich werde es euch beweisen, dass
durchaus eine Änderung erfolgen kann. Ich habe auch schon einen konkreten Plan.
Ich brauche nur eure Erlaubnis dazu.“
„Und was hast du vor?“, n schaute den kleinen Einpunkt etwas skeptisch an.
„Das ist mein Geheimnis“, gab i zur Antwort. „Nun, vertraut ihr mir und gebt
ihr mir die Erlaubnis?“
Es setzte eine heftige Diskussion unter den Kleinbuchstaben ein. Endlich
klatschte Groß-A in die Hände.
„Ruhe, bitte, meine Herrschaften“, rief es. „Ich meine, wir sollten es machen,
wie die Politiker und abstimmen. Wer ist dafür, dass sich Klein-i verändert?“
Eine Menge Arme der Buchstabenfreunde gingen in die Höhe.
„Das ist mehr als die Hälfte“, zählte Groß-A. „Damit erteile ich dir die
Erlaubnis. Aber ich setze dir eine Frist von einer Woche. Dann treffen wir uns
alle wieder hier und entscheiden darüber, ob der Plan von Klein-i gelungen ist
oder ob der alte Zustand wieder hergestellt werden muss.“
Damit war die Versammlung aufgehoben. Klein-i wurde von allen Seiten bedrängt
und jeder wollte wissen, was sich dieser kleine Buchstabe ausgedacht hatte.
Doch das winzige i schwieg, boxte sich zum Ausgang des Saales durch und war mir
nichts dir nichts verschwunden. Zurück blieben die verwunderten
Kleinbuchstaben.
Um keine Zeit zu verlieren, denn eine Woche war wirklich nicht lang, begann
Klein-i seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Genau in diesem Moment formulierte Tim die Einladung an seine Traumfreundin.
„Liebe Gabi! Ich bitte dich, mich Mittwochnachmittag ins Kino zu begleiten.
Sicher willst du auch den Film ‚Die Sieben Siegel’ sehen. Bis Mittwoch, dein
Tim!“
Er faltete den Bogen zusammen und steckte ihn am nächsten Tag seiner Freundin
zu. Als sie ihn öffnete, strahlten ihre Augen.
„Mann, da hast du dir ja was Hübsches einfallen lassen. Das hätte ich dir gar nicht
zugetraut.“ Gabi drückte ihrem Freund einen Kuss auf die Wange.
Tim sah etwas überrascht aus, als er einen Blick auf seine Einladung warf. Alle
i-Punkte hatten sich in Herzchen verwandelt und blinkten ihm entgegen.
Klein-i freute sich sehr darüber, dass sein Plan mit der ersten Verwandlung so
viel Freude bereitet hatte.
Da es nicht nur Liebesbriefe auf der Welt gab, grübelte Klein-i, wie es sich
noch verändern könnte.
Da kam ihm eine Einladung zu einer Faschingssitzung gerade recht. Schnell
verschwand der kleine Buchstabe in seiner Kleiderkammer, um sich ein geeignetes
Kostüm herauszusuchen. Und was passte besser zum Fasching, oder auch Karneval
genannt, als ein Clownsgesicht.
So schwebten statt den üblichen i-Punkten lauter kleine Clownsgesichter über
den i-Strichen. Auch bei diesem Experiment schaute Klein-i nur in strahlende
Gesichter, als die Gäste ihre Einladungen öffneten.
„Na, da hatte der Faschingsclub dieses Jahr eine nette Idee!“, rief eine ältere
Frau aus, als sie ihrem Mann die hübsche Karte zeigte. „Lauter kleine lustige
Clownsgesichter.“
Das kleine i probierte noch viele andere Möglichkeiten aus. Einmal verwandelte
sich der i-Punkt in eine Margaritte, in ein Veilchen oder auch in eine
Sonnenblume. Zu jedem Anlass, sei es eine Hochzeit oder auch nur ein
Kindergeburtstag, immer fiel Klein-i etwas Passendes ein. Nur als es beim
Schreiben einer Trauerkarte gebraucht wurde, weil ein Mensch gestorben war, da
behielt es wieder seinen alten Zustand bei.
Fast war die Woche vorüber, als beim Finanzamt ein Angestellter eine letzte
Mahnung an einen Steuerzahler schreiben musste.
Herrn Miller wurde mit einer Strafanzeige gedroht, da er seine hohen
Steuerschulden noch nicht bezahlt hatte. Dem Text folgten noch einige
gesetzliche Belehrungen, in denen so viele kleine i enthalten waren, dass sich
das Einpünktchen nicht entscheiden konnte, welche seiner Verkleidungen es
überziehen sollte.
„Ich glaube, ich probiere hier mal eine andere Art aus“, murmelte es vor sich
hin.
Nach Beendigung des Schreibens las der Angestellte den Brief noch einmal durch,
um eventuelle Fehler zu berichtigen, als er einen gehörigen Schrecken bekam.
Über allen kleinen i-Buchstaben schwebten Herzchen, Blümchen und
Clownsgesichter. Der amtliche Brief war so lustig anzuschauen, dass ihn niemand
für ernst genommen hätte.
Der Angestellte konnte nicht begreifen, was da geschehen war. Schnell nahm er
einen Tippex-Stift und mit einem Wisch waren alle verwandelten i-Punkte wieder
verschwunden.
Dies stimmte Klein-i nachdenklich. Noch nie hatte jemand seine lustigen Punkte
auf solch schmerzliche Weise entfernt. Doch noch mal alle i im Text zu
verändern, dazu fehlte dem kleinen i die Zeit, denn die Woche war um und es
musste zur Versammlung laufen.
Hier hatten sich die anderen Kleinbuchstaben bereits beraten und eine
Entscheidung getroffen. Als Klein-i eintraf, wurde es umjubelt. Alle Kollegen
waren von seiner Idee begeistert.
Groß-A trat wieder an das Rednerpult und sofort war Ruhe im Raum.
„Also, Klein-i“, begann der Großbuchstabe. „Ich stand ja anfangs deinem Plan
etwas skeptisch gegenüber. Aber als ich deine ersten Aktionen erlebte und die
Begeisterung der Menschen sah, musste ich zugeben, dass du mit der Veränderung
deines Äußeren Recht hattest. Nur leider war deine Verkleidung nicht überall
angebracht.“
„Bei dem amtlichen Schreiben vom Finanzamt, da habe ich wohl etwas
übertrieben“, gab das kleine i zu. „Obwohl, über einen Brief mit meinen
lustigen i-Punkten hätte sich der Steuerzahler bestimmt mehr gefreut.“ Klein-i
schmunzelte spitzbübisch.
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Von Ute Petkelis
Am Montagmorgen war es besonders laut im Klassenzimmer der Buchstaben-Schule. Alle
Buchstaben wirbelten im Raum herum und redeten durcheinander. Jeder wollte von
seinen Abenteuern am Wochenende berichten.
Besonders laut schrie das e: „Ich hatte am Wochenende besonders viel zu tun,
denn alle Hobby-Geschichtenerfinder nutzen die freien Tage, um ihre
Kurzgeschichten und Romane zu schreiben.“ E wollte von einer interessanten
Begebenheit erzählen, als sich die Tür öffnete und Lehrer Ausrufezeichen das
Klassenzimmer betrat.
In diesem Moment schoss l ein Papierkügelchen auf m. Doch dieses verfehlte sein
Ziel und nahm Kurs auf den Lehrer. Ausrufezeichen konnte sich gerade noch
bücken, bevor er getroffen wurde. Das brachte die Klasse zum Lachen, denn der
Lehrer sah nun einem Fragezeichen sehr ähnlich.
„Ruhe, meine Herrschaften!“, rief er den Buchstabenkindern zu und klatschte
dabei in die Hände. „Wir wollen mit dem Unterricht beginnen. Wie ich schon
angekündigt habe, befassen wir uns heute mit der Trennung von Worten. Kann mir
einer von euch sagen, was wir darunter verstehen?“
Im Klassenzimmer war es mucksmäuschen still geworden. Die Buchstaben sahen sich
verwundert an und zuckten mit den Schultern.
„Wenn keiner einen Vorschlag hat, will ich mal eine Hilfe geben“, begann
Ausrufezeichen. „Ich möchte, dass die Buchstaben s, o, doppeltes n und e nach
vorne kommen.“
Zwischen den Buchstabenreihen wurden Stühle gerückt und die genannten
Schriftzeichen versammelten sich vor der Klasse.
„Welches Wort könnt ihr vier beziehungsweise fünf Buchstaben bilden?“ Der
Lehrer sah die Kandidaten erwartungsvoll an.
Schnell formierten sich s und o, nahmen das doppelte n in ihre Mitte und das e
bildete den Schluss. Strahlend wie die ‚Sonne’ standen sie vor Ausrufezeichen.
„Prima habt ihr das gemacht. So, und nun kommen wir zur Teilung des Wortes.“
Daraufhin stellte sich der Lehrer vor das Doppel-n, drückte beide Buchstaben
zur Seite, das ein nach rechts, das andere n nach links.
„Autsch“, riefen Beiden aus. „Das können Sie doch nicht machen. Uns trennt so
leicht keiner.“ Doppel-n versuchte verzweifelt wieder zusammen zu kommen. Aber
der Lehrer nahm einen Stuhl und stellte ihn zwischen die Zwillingsbuchstaben.
„So wird das Wort ‚Sonne’ getrennt, nämlich in ‚Son-ne’. Und da könnt ihr noch
so laut protestieren, wenn die Zeile, die ein Schriftsteller schreibt, zu kurz
ist und das komplette Wort ‚Sonne’ nicht mehr hineinpasst, dann müsst ihr euch
teilen. Das sind nun mal die Regeln.“
Die beiden n jammerten noch eine Weile, doch als Ausrufezeichen noch weitere
Beispiele anführte, sahen sie ein, dass sich alle Zwillingsbuchstaben teilen
mussten. So wurden bei ‚Stelle’ die beiden l getrennt, bei ‚Stimme’ die beiden
m und so weiter.
Nach einiger Zeit beruhigte sich Doppel-n etwas.
Am Schlimmsten traf es die Vokale, die auch Selbstlaute genannt wurden. Das
sind a, e, i, o, und u. Standen sie am Anfang des Wortes, trennte sie
Ausrufezeichen gnadenlos von der restlichen Buchstabenfolge.
Das a stand plötzlich ganz alleine da und schwankte hin und her, denn es hatte
nun auf beiden Seiten seine Stützen verloren. Der Lehrer schob den Rest des
Wortes ‚Abend’ einfach weg. Auch das o wurde von seinem ma getrennt und wäre
beinahe vor lauter Schreck davon gerollt.
Besonders schlimm wurde das Geschrei bei st. „Wir sehen gar nicht ein, dass wir
uns trennen lassen“, schimpften die beiden. „Sch kann auch zusammen bleiben.
Wir protestieren energisch.“
Obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrten, nutzte es ihnen nichts.
Ausrufezeichen stellte sich einfach zwischen s und t und so konnten sie sich
nicht mehr vereinen.
Zum Glück ertönte in diesem Moment die Schulklingel und die Stunde des
Trennungsschmerzes war zu Ende. Schnell vereinigten sich die getrennten
Buchstaben wieder und verließen eilig das Klassenzimmer, ohne dass
Ausrufezeichen die Chance hatte, ihnen noch einige Übungsaufgaben für zu Hause
mit auf dem Weg zu geben.
Auf dem Heimweg kuschelte sich s ganz eng an das t und meinte: „Hoffentlich
sind die Zeilen immer lang genug, wenn Worte mit unserer Verbindung geschrieben
werden, damit wir zusammen bleiben können.“
T sah auf das kleine s herab und umschlang es mit seinen Armen. „Auf immer und
ewig!“
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